Literaturnobelpreis 1987: Joseph Brodski

Literaturnobelpreis 1987: Joseph Brodski
Literaturnobelpreis 1987: Joseph Brodski
 
Der Amerikaner erhielt den Literaturnobelpreis für ein literarisches Schaffen von umfassender Breite, geprägt von gedanklicher Schärfe und dichterischer Intensität.
 
 
Joseph Brodsky, * Leningrad (heute Sankt Petersburg) 24. 5. 1940 als Jossif Aleksandrowitsch Brodskij, ✝ New York 28. 1. 1996; ab 1972 im Exil in den USA, ab 1977 amerikanischer Staatsbürger, 1972-80 Poet-in-Residence der University of Michigan, danach Lehrtätigkeit an verschiedenen amerikanischen und englischen Universitäten, viele Preise und Ehrungen, darunter »poeta laureatus« der USA (1991).
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Man hat bereits an dem jungen Joseph Brodsky eine gewisse feuerköpfige Schneidigkeit und Arroganz bemerkt, die sich in der Sturheit wiederfindet, mit der er als Mann mittleren Alters an einmal gefassten Ansichten festhält. Die überheblich anmutende These seiner Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises, das Volk müsse die Sprache der Dichter sprechen, ergibt sich unmittelbar aus seiner langjährigen Forderung, wonach der Dichter nichts anderem verpflichtet sei als der Sprache, deren »Existenzmittel« er sei. Ihren Gesetzmäßigkeiten sei er verpflichtet, ihren Eigentümlichkeiten verleihe er Ausdruck und das umso mehr, wenn er es mit der russischen Sprache zu tun habe, deren Mehrsilbigkeit (die durchschnittliche Wortlänge beträgt drei bis vier Silben) besonders geeignet sei, »die elementare, ursprüngliche Kraft der durch das Wort verdeckten Phänomene zu enthüllen« und ihre Nutzer von rein »vernunftgemäßen Deutungen« weg auf »unvorhergesehene Nebenpfade« zu leiten.
 
Diese Einsichten verallgemeinernd, gelangt Brodsky zu seiner Metaphysik der Poesie, die als vornehmste Sachwalterin der Sprache als universales Gedächtnis und Lehrerin der Menschheit gelten kann.
 
 Erste Schritte als Dichter
 
Joseph Brodsky marschierte mit 15 Jahren theatralisch aus dem Klassenzimmer, um nie mehr dahin zurückzukehren, weil er der kommunistischen Indoktrinierung und den antisemitischen Anfeindungen, denen er sich ausgesetzt sah, überdrüssig war. Fortan schlug er sich mit wechselnden Jobs durch, während er im Selbststudium die Basis seiner umfassenden Bildung erwarb. Mit 18 hatte er erste Gedichte veröffentlicht, und als er ungefähr 20 Jahre alt war, wurde seine Begabung von Anna Achmatova, der damals bedeutendsten zeitgenössischen russischen Lyrikerin, entdeckt und gefördert. Sie machte Brodsky mit der lyrischen Tradition Russlands bekannt und bestärkte ihn in seinem bereits erwachten Interesse an der englischsprachigen Lyrik.
 
 Gefangennahme und Exil
 
Obwohl Brodsky kaum politische Themen behandelte und die Zeit, als man in der Sowjetunion Schriftsteller scharenweise in Straflager schickte, bereits vorbei war, wurden politische Stellen auf den eigensinnigen Kopf aufmerksam. Brodsky, der Tätigkeiten als Schriftsteller und Übersetzer (vor allem aus dem Polnischen und Englischen) nachging, wurde der Prozess wegen parasitären Lebenswandels gemacht. Er endete 1965 mit seiner Verbannung in ein sibirisches Straflager, obwohl sich angesehene Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben der Sowjetunion für ihn eingesetzt hatten. Der Prozess erregte durch heimliche Mitschriften auch im westlichen Ausland Aufsehen und machte Brodsky international bekannt. 1965 erschien eine russische Ausgabe seiner Dichtungen in den USA, 1967 folgte die englische Übersetzung. 1966 erschienen Übertragungen ausgewählter Gedichte in einem westdeutschen Verlag. Der anhaltende öffentliche Druck auf die sowjetischen Stellen bewirkte, dass Brodsky schon nach eineinhalb statt nach fünf Jahren entlassen wurde. 1972 wurde er zwangsexiliert und ging in die USA. Zuvor appelierte er an den Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, ihm die Möglichkeit zur Rückkehr offen zu halten. »Ich gehöre zur russischen Kultur«, schrieb er dem Parteichef. Das hinderte Brodsky, der perfekt Englisch sprach und seine Gedichte selbst zu übersetzen vermochte, jedoch nicht daran, sich rasch im akademischen und intellektuellen Leben der USA zu etablieren, während seine russischsprachige Produktion weder versiegte noch an Qualität einbüßte. Als eine Rückkehr nach Russland in den späten 1980er-Jahren möglich wurde, zögerte Brodsky: »Während es für einen Verbrecher noch Sinn machen mag, zum Ort seines Verbrechens zurückzukehren, [...] wäre es von vollkommener Sinnlosigkeit, den Ort seiner ersten Liebe wieder aufzusuchen.«
 
 Brodskys lyrische Themen
 
Von der Richterin in dem Prozess 1965 auf seine Qualifizierung als Dichter angesprochen, brachte Brodsky die Überzeugung zum Ausdruck, Dichtung sei nichts, was man lernen könne, sondern »ein Geschenk Gottes«. Wer sich so berufen fühlt, wird kaum politische Lyrik produzieren, sondern sich eher Gegenständen zuwenden, die der anrüchigen Wandelbarkeit der menschlichen Dinge entzogen sind. Und in der Tat zeugt Brodskys Lyrik von einem vornehmlichen Interesse an religiös-metaphysischen Themen: Zeit, Vergänglichkeit, Zerfall, Abschied, Trennung und Tod. Ein großer Teil seiner Gedichte besitzt den Charakter von Elegien wie die »Große Elegie auf John Donne« (1963), wahrscheinlich Brodskys berühmtestes Gedicht. Diese Gedichte beschreiben das Leben im Hinblick auf sein Ziel, den Tod, der dem Leben die Grenze zieht. Brodsky definiert Poesie anhand eines Ausspruchs des spanischen Dichters Garcia Lorca. Vor seiner Erschießung 1936 durch ein faschistisches Kommando sah dieser die Sonne über den Köpfen der Soldaten aufgehen. »Und dennoch geht die Sonne auf«, soll er gesagt haben. Brodsky greift die Legende auf und erklärt, dass der Dichter seine kurze Existenz vor der Ewigkeit rechtfertigt, indem er seine Wahrnehmung der Welt in Worten festhält.
 
Etwa die Hälfte von Brodskys Gedichten sind Langgedichte, die seiner Lyrik einen gewissen epischen Atem verleihen. »Die Hügel« (1970), ein markantes Poem der frühen Phase, beschreibt aus der Vogelperspektive eine entfernte, kalte Welt, in der die Dinge und die Menschen nicht mehr grundsätzlich unterschieden werden, beide reduziert auf Bruchstücke von Wahrnehmungen und besungen in einem unbarmherzig hämmernden Rhythmus. In den späteren Gedichten der Exilzeit verliert sich die überdeutliche Akzentuierung der Verse zugunsten einer mehr zurückgenommenen, intimeren und leise gebrochenen Form.
 
Brodsky erinnert in seinen Gedichten nicht nur häufig an die poetischen Leistungen der Vergangenheit und greift Themen auf, die aus der Mythologie oder der Bibel in die literarische Tradition eingegangen sind (zum Beispiel: »Isaak und Abraham« 1965, »Dido und Äneas« 1969, »Odysseus und Telemach« 1972), sondern bemüht sich auch um die Bewahrung der überlieferten Formen, über deren Arsenal an Metren, Reim- und Strophenformen er in souveräner Weise verfügt.
 
Brodsky gehört zur literarischen Moderne, aber er ist nicht als Avantgardist zu bezeichnen. Sein Ruhm verbreitete sich vor allem anhand englischer Übersetzungen seiner Gedichte, aber auch durch glänzend formulierte Essays. Seit der Verleihung des Nobelpreises werden seine Gedichte auch wieder in Russland gedruckt. Heute gilt Brodsky als ein Dichter von internationaler Statur mit Chancen, nach seinem Tod im literarischen Gedächtnis der Menschheit weiter zu leben.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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